Die Lebenserinnerungen der Alice Kusiel
Alice Kusiel (1893-1987) verh. Ottenheimer verbrachte ihre ersten 12 Lebensjahre in Hochberg. 1905 zogen ihre Eltern Salomon und Fanny Kusiel mit Alice und ihren zwei Geschwistern nach Ludwigsburg um. 1920 heirate Alice in Ludwigsburg den Handelsvertreter Albert Ottenheimer (1883-1963). Das Paar hatte zwei Kinder: Hans, in den USA John (1921-2021) und Fritz, in den USA Fred (1924-1999). Nach der Pogromnacht im November 1938 kamen Hans und Albert Ottenheimer zur Einschüchterung ins KZ Dachau. Juden, die dort zusagten, dass sie auswandern würden, wurden nach einiger Zeit wieder entlassen. Hans emigrierte im Februar 1939 allein in die USA und konnte im August 1941 seine Eltern nachholen. Alice schrieb 1971 für ihre Enkel ihre Lebenserinnerungen auf. Das erste Kapitel beschäftigt sich mit ihrer Kindheit in Hochberg und findet sich online im Archiv des Leo Baeck Instituts in New York. Alice Kusiel beschreibt sehr anschaulich die dörflichen Lebensverhältnisse um 1900 in Hochberg. So erfahren wir, dass der Friseur auch fürs Zähneziehen zuständig war oder dass die Freiwillige Feuerwehr Hochberg in ihrer Kindheit nur einmal zu einem Brand ausrücken musste. Die Familie lebte in einer Mietwohnung im Obergeschoss der Hauptstraße 24, dem Hochberger Rathaus, in dem im Erdgeschoss auch die Feuerspritze untergebracht war. Aus der in vielen Details spannenden Schilderung des Dorflebens um 1900 ergeben sich auch zwei neue Informationen über die letzten Jahre der jüdischen Gemeinde in Hochberg, die laut Alice aus fünf Familien, zwei alten Junggesellen und zwei Witwen bestand: Den Sederabend, die zeremonielle Mahlzeit in der jüdischen Familie zu Beginn des Pessachfestes, leitete bei den Kusiels ein Cousin des Großvaters: Ascher Kusiel (1834-1916) war alleinstehend und galt im Dorf als geiziger und schwieriger Zeitgenosse. Er hatte aber eine sehr gute Singstimme und führte souverän durch die Pessach-Haggada, die Erzählung vom Auszug aus Ägypten. „He also replaced the cantor in the temple, after the congregation became too small to afford one“. Der letzte nachgewiesene Kantor (Vorsänger) der Gemeinde war Isidor Zwinger (amtierte 1897-1901). Nun wissen wir, dass Ascher Kusiel wohl von 1901 bis 1910, dem Jahr des letzten Synagogengottesdienstes in Hochberg, diese Funktion ehrenamtlich ausübte.
Der Kantor war bis 1871 in Personalunion auch der Lehrer der jüdischen Schule. Nach deren Schließung 1872 war der Vorsänger noch für den jüdischen Religionsunterricht zuständig, den die jüdischen Kinder freitagmorgens besuchten, ansonsten aber nun in die christliche Volksschule gingen. Bei Alice Kusiel erfahren wir die Regelung zum Religionsunterricht nach 1901: Alice nahm am evangelischen Religionsunterricht der Volksschule teil. Einmal im Monat kam der Kantor der Ludwigsburger jüdischen Gemeinde Abraham Schmal mit der Pferdekutsche bei den Kusiels vorgefahren und erteilte Einzelunterricht: „He taught me to read Hebrew, translate prayers and read bible stories. He always brought his wife along and when the lesson was over we had coffee and cake.“ Mit einer Krankheitsvertretung von Schmal kam Alice aber gar nicht klar und rebellierte gegen diese Form des Unterrichts. Sie führt ihre liberale religiöse Haltung auf diese Erfahrung zurück und schließt: „Though in later years I never practiced religious customs, I’m a part of the Jewish people.“
Foto: Alice Kusiel (Kennkarte 1938, Stadtarchiv Ludwigsburg)