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Judentum

Viehhandel “auf Ehre und Treue”

Viehhandel “auf Ehre und Treue”

„Einige israelitische Handelsleute aus Hochberg, die auf Ehre und Treue halten und dieser schändlichen Betrügerei steuern möchten“ ist ein Artikel in der Ludwigsburger Zeitung vom 19. Januar 1869 unterzeichnet. Gefunden hat ihn im Zeitungsarchiv wieder Christa Lieb aus Ludwigsburg, die systematisch die alten Tageszeitungen liest und aufarbeitet. Was prangern die Hochberger jüdischen Händler an? Schon die Überschrift gibt Aufschluss: „Schädliches Treiben badischer Handelsleute, namentlich einiger Gemminger Juden auf den Viehmärkten Württembergs“. Der Vorwurf lautet, dass jüdische Viehhändler mit Tricks auf den Märkten überhöhte Preise für ihr Vieh erreichen, indem sie christliche Helfer auf potenzielle Käufer ansetzen. Es werden drei Strategien geschildert, wie „Gimpel“ auf „die Leimrute“ getrieben werden: Erstens werde vom Helfer vorgegaukelt, dass er selbst ein Kaufinteressent sei, dem der jüdische Händler nicht verkaufen wolle. Der hinters Licht Geführte solle das Vieh für den vermeintlichen Kaufinteressenten zu einem (überhöhten) Preis gegen eine kleine Provision erwerben. Hat er das Geschäft abgeschlossen, ist der Helfer aber spurlos verschwunden. Zweitens träten die Helfer als vermeintliche Kaufinteressenten auf. In Anwesenheit ernsthafter Kaufinteressenten würden lautstarke Kaufverhandlungen geführt, in denen der Preis hochgetrieben werde, um den eigentlichen Käufern eine falsche Marktlage vorzugaukeln und sie zum Bezahlen überhöhter Preise zu verleiten. Drittens würden überhöhte Viehpreise durch schauspielerische Einlagen der Helfer dem Kunden als „spottwohlfeil“ dargestellt und diese fielen auf die Inszenierung herein. Der Artikel endet: „Es wäre wohl gut, wenn die betreffenden Schultheißen-Ämter ihre Angehörigen von der Sachlage in Kenntnis setzen würden, damit sie solchen gefährlichen Treibjägern nicht zum Opfer fallen. Einige israelitische Handelsleute aus Hochberg, die auf Ehre und Treue halten und dieser schändlichen Betrügerei steuern möchten.“
Es sticht natürlich sofort ins Auge, dass hier das antisemitische Klischee vom „jüdischen Wucherer“ von den Hochberger Juden selbst gegen die Gemminger Juden gebraucht wurde. Langfristig war das sicher keine sehr clevere Strategie, da man so Vorurteile gegen eine religiöse/ethnische Gruppe verstärkt und die Ausgrenzungsargumentation irgendwann auf einen selbst zurückfällt. Der Hintergrund für dieses Handeln ist leicht zu durchschauen: Der südwestdeutsche Viehhandel war von jüdischen Viehhändlern dominiert. Die einzelnen Händler aus bestimmten landjüdischen Gemeinden pflegten ihre Handelsbezirke voneinander abzugrenzen. Württemberg war im Gegensatz zu heute im 19. Jh. mit einem weit überdurchschnittlichen Viehbestand gesegnet und exportierte Schlachtvieh mit der Eisenbahn bis nach Berlin. Die Hochberger Viehhändler waren ursprünglich mit ihren Handelskontakten in der vorindustriellen Zeit in den heutigen Rems-Murr-Kreis orientiert. Vor allem der Viehmarkt in Winnenden war der Bezugspunkt. Mit dem Bau der Eisenbahn verlagerte sich der Viehtransport auf die Schiene und die Viehmärkte an Bahnstationen waren nun die großen interessanten Umschlagplätze. Man musste sich neu orientieren. Die Schiene von Stuttgart nach Ludwigsburg wurde zwar schon 1846 verlegt. Der heutige Bahnhof in Ludwigsburg als großer Umschlagplatz wurde aber erst 1869 fertiggestellt. Die Gemminger Juden (seit 1806 badisch, 18 km westlich von Heilbronn gelegen) versuchten genauso wie die Hochberger Juden im durch die Eisenbahn nun für den Viehhandel sehr attraktiven Ludwigsburg Fuß zu fassen. Die Hochberger Juden wollten das Ausgreifen der Gemminger Händler nach Süden nicht dulden und griffen zu nicht sehr klugen Verdrängungsstrategien. Der Konflikt löste sich insofern auf, als sowohl Gemminger als auch Hochberger Viehhändlerfamilien sich am Markt- und Bahnhofsstandort Ludwigsburg niederließen und jüdischer Vieh- und Pferdehandel ab der 2. Hälfte des 19. Jh. in Ludwigsburg in Hand von jüdischen Familien aus Ludwigsburg war, die ihre Wurzeln zum Teil in Gemmingen und Hochberg hatten.

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